Ein paar Wochen Schulzeit musste ich noch hinter mich bringen, dann begann die aufregende Zeit in der Bretagne. Einige Tage vergingen mit Bangen, da ich in einer Russischarbeit einen heftgroßen Schummelzettel liegen ließ. Ich konnte ihn während des Testes nicht mehr herausnehmen, da der Lehrer ständig neben meinem Platz stand. Würde er ihn beim Korrigieren finden? Bekam ich dann eine sechs oder passierte noch schlimmeres? Um es kurz zu machen, er entdeckte ihn nicht, ich bekam eine drei und konnte mein Glück und seine Dummheit kaum fassen.

In Frankreich glaubte ich, die schönste Zeit meines bisherigen Lebens zu erleben. Ich schlief keinen Tag mehr als zwei Stunden in einer netten Gastfamilie. Das einzig Kulturelle, was ich dort erfuhr, war das fremde Essen. Zur Vorspeise zwei Mettwurstscheiben auf einem Teller, erschienen mir merkwürdig. Dann ein neuer Teller mit einer großen grünen Blume. Wie aß man Artischocken? Ich knabberte das winzige Herz aus der Mitte ab und hinterließ viel Müll. Wieder stellte die arme Hausfrau einen neuen Teller auf den Tisch mit einem Stück Fleisch darauf. Dazu gab es Weißbrot mit mehr Löchern als Mehl und viel Wasser. Der Nachtisch gefiel mir, aber noch besser gefiel mir Manfred. Wir verbrachten alle Tage und Nächte zusammen. An unserem Abschiedsabend, den wir alle gemeinsam auf dem Marktplatz des Städtchens feierten, verlobten wir uns. Frau Latour, unsere Begleiterin hatte alles nett arrangiert. Sie hatte Blumen und Ringe besorgt. Ausgelassen und etwas beschwipst vom ungewohnten Cidre, saßen wir auf den langen Holzbänken bis in den frühen Morgen. Auf dem Rückweg im Bus, stellten Manfred und ich einen Dauerrekord im Küssen auf.

Wieder zu Hause fuhren Rixa und ich gleich weiter nach Dänemark, wo die übrige Familie schon Urlaub machte. Als Rixa verkündete, ich hätte mich verlobt, wurden die Gesichter bedenklich, doch ich konnte Mama und Papa beruhigen, indem ich ihnen sagte, dass das Ganze nicht so ernst zu nehmen sei. So war es dann auch. Ich reihte Manfred, den tollen Handballer aus Bremen-Vegesack, in die Riege meines männlichen Harems ein. Zum Glück wohnte er weiter weg, so dass wir uns nicht ständig sehen konnten. Reinhold gab ich den Laufpass, denn zu meinen drei alten Verehrern kamen nun noch zwei neue hinzu. Helge war der Primus der Schule und absoluter Außenseiter. Er lief in einem blankgewetzten schwarzen Anzug herum, trug auf dem Hinterkopf ein kleines Käppchen, wie die Juden es tragen und in der Hand stets einen Regenschirm. Seine Finger waren immer schwarz von Druckerschwärze, da er unsere Schulzeitung, den "Dreiklang", herstellte. Dabei sollte ich ihm nun helfen. Helge besuchte den Unterricht nur, wenn er meinte, dort etwas lernen zu können. Die Lehrer akzeptierten das merkwürdigerweise. Er übersprang Klassen und bekam ein Stipendium für Cambridge. Zuvor aber schrieb er mir Liebesgedichte, schenkte mir Schallplatten von Benjamin Britten und schrieb einen Hausaufsatz für mich, für den ich zum ersten Mal in meinem Leben eine fünf erhielt. Ich war davon überzeugt, dass die Zensur bedeutend besser ausgefallen wäre, hätte "Sandmännchen" gewusst, wer den Aufsatz geschrieben hatte. In Helge war ich überhaupt nicht verliebt und deshalb froh, als er nach England ging, und ich mich seiner Annäherungsversuche nicht mehr erwehren musste. Auch von dort schrieb er mir noch lange selbstverfasste Liebesgedichte. Jahrzehnte später traf ich ihn einmal wieder. Er war Lastwagenfahrer geworden und hatte sich gerade seinen ersten Truck zugelegt.

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